Zwischen Mathematik und Psychoanalyse: Sa Murra Sarda

Schon die alten Ägypter spielten Morra. Und die Römer. Und die Griechen. Und die Etrusker.
Aber dieses jahrtausendealte Spiel mit all seinen Facetten ist nicht nur ein faszinierender Ausdruck von Kreativität, es ist vor allem ein Spiegel der Seele eines Volkes.

In Sardinien braucht man für Sa Murra Durchhaltevermögen. Man muss lauter schreien als der Gegner, scharf sein und bereit zur Herausforderung.

In den rauesten Gegenden Sardiniens wird man irgendwann bei jedem Fest, jeder Feier oder jedem Dorffest plötzlich von unmenschlichen Schreien überwältigt, Männer voller Energie, die ganz im Spiel versunken sind.
Eine Art „Schere, Stein, Papier“, nur dass es hier keine Schere, keinen Stein und kein Papier gibt, sondern die Zahlen eins bis zehn. Und statt auf Zufall basiert das Spiel auf Logik und schneller Kopfrechnung: blitzschnelles Addieren, Vorausschauen, ein scharfes Denkvermögen. Statt Kindern spielen hier Männer. Balentés.

Gespielt wird in Zweierteams, zwei gegen zwei, mit einem externen „Schiedsrichter“, meist mit den Daumen in den Taschen, der aufmerksam und stolz die Punkte zählt. Wer zuerst 16 erreicht, gewinnt. Zwei Gegner lehnen sich nach vorne, bereit zum verbalen Angriff, werfen ihre Hände nach vorne und rufen gleichzeitig die Zahl, die sie im Kopf haben. Um den Punkt zu gewinnen, muss sie mit der Summe der gezeigten Finger übereinstimmen.

Wer Sa Murra spielen will, muss extrem schnell im Kopfrechnen sein und trotzdem das schnelle, rhythmische Tempo des Spiels halten. Doch über die Mathematik hinaus gibt es einen weiteren entscheidenden Aspekt von Sa Murra, den man fast psychoanalytisch nennen könnte: Man muss seinen Gegner durchschauen, bevor er einen selbst durchschaut.

Gesten, Gesichtsausdruck, Stimme: die Analyse von verbaler und nonverbaler Kommunikation ist eine Kunst. Schon in den ersten Spielrunden erkennen die Schlauesten wiederkehrende Muster in den Reaktionen und Zahlen ihres Gegners. Und genau wie im echten Leben gewinnt derjenige, der schneller und besser versteht.

Das Spiel wird so zu einem konstruktiven Zeitvertreib und was dabei entsteht, ist auch eine Art Identitätsprofil der Spieler, das sich in ihrer Körperhaltung und der Art, Zahlen auszusprechen, zeigt. Die Interpretation des Gegenübers wird nie ausgesprochen, ist aber das unsichtbare Bindeglied des Spiels. So wie die Zahl zehn, dèghe/dèke, die nie laut gesagt wird, ihr Name wurde durch den Namen des Spiels selbst ersetzt: Murra bedeutet nämlich zehn.

Auch die poetische Ader der Sarden zeigt sich hier: Neben den Zahlen fliegen mehr oder weniger spöttische Reime hin und her, um den Gegner zu provozieren, ihn aus der Fassung zu bringen, und so psychologisch zu kontrollieren. Man hört Rufe wie „Sese – serìu!“ (sechs – bleib ruhig!), „Murra – Muttu!“ (zehn – halt den Mund!) oder poetische Abwandlungen von Zahlen, etwa duru statt duoso für zwei oder baranta statt battoro für vier – eine weitere Art zu zeigen, dass man die Oberhand hat.

Währenddessen spielen die Kinder ihre eigenen Spiele, rennen herum, hören aber passiv den herausfordernden Stimmen zu. Und wie bei allem, was sich über Zeit wiederholt, werden sie schließlich davon angezogen. Diese unerwartete Faszination verwandelt passive Beobachtung nach und nach in den Wunsch, selbst mitzuspielen.

Es gibt keine Überreizung, keine vereinfachte oder separate Erklärung. Kinder werden nicht als unfähig behandelt, sie sind Teil der Erwachsenenwelt und saugen, saugen, saugen Wissen auf. Sie lernen durch Eintauchen.
In Sardinien geschieht das noch immer so: in der Musik, in der Kochkunst, im Tanz und im cantu a tenore.

Sa Murra ist also nicht nur ein Spiel, sondern auch ein soziales Ritual und ein Mittel zur kulturellen Weitergabe, eine archaische Art, die Codes einer Gemeinschaft zu erlernen.

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