Neu geboren aus freiem Willen: Zwischen dem sardischen fiz’e’anima und der deutschen Patenschaft

Keiner von uns hat je darum gebeten, geboren zu werden.
Trotzdem gibt es eine Art unausgesprochene Pflicht, die Eltern zu verehren, nur weil sie uns zur Welt gebracht haben. Egal, ob sie liebevoll oder zerstörerisch, autoritär oder einfühlsam, unterstützend oder toxisch sind: Wir sollen ihnen danken, einfach nur weil wir leben. Und wir tragen dieses Schuldgefühl wie eine Art lebenslange Schuld. Aber genauso wenig wie Eltern ihre Kinder wählen, wählen Kinder ihre Eltern. Deshalb nennt man in einigen Gegenden Sardiniens das ungeborene Kind i strangiu, den Fremden.

Doch es gab in Sardinien eine Möglichkeit, diesem „Schicksal“ zu entkommen: Man konnte sich eine zweite Familie aussuchen, zusätzlich zur biologischen. Dann wurde das Kind zu einem fiz’e’anima, wörtlich „Seelenkind“. Kein offizieller Vertrag, kein Formular, keine äußere Zustimmung, nur eins zählt: Das Kind wählt eine zweite Familie, und diese wählt das Kind. Auf der Grundlage eines Gefühls, das bei uns im Dorf bis heute zèniu heißt, gegenseitige Achtung und Zuneigung.

Mindestens zwei Dinge an dieser Geschichte sind besonders faszinierend:

Erstens der gemeinschaftliche Boden, auf dem ein fiz’e’anima wachsen kann, ein Boden ohne Individualismus. Allen war klar: Das beste Umfeld für ein Kind entsteht durch Zusammenarbeit. Eine gute Mutter oder ein guter Vater zu sein, bedeutet nicht, alles allein beizubringen. Jeder Mensch hat eigene Eigenschaften, und das, was die gewählte Familie dem Kind schenken kann, wird nicht als Mangel der leiblichen Familie gesehen, sondern als Bereicherung.

Zweitens das Konzept der kollektiven Verantwortung, fast schon ein Stammesdenken, in dem die Kinder allen gehören. Wenn einer nicht kann, springt der nächste ein. Weil man sich als Gemeinschaft versteht.

In einem Abschnitt meines Lebens hatte auch ich das Glück, eine moderne Version eines fiz’e’anima zu sein. Ich war schon 18 oder 19, es war keine schöne Zeit. Und wie jemand mal sagte: Wenn der Schüler bereit ist, erscheint der Lehrer. Bei mir war es so. Er ist gekommen, und meine Familie und ich haben zugestimmt. Und er ist geblieben.

In Deutschland gibt es ein ähnliches Konzept, mit wichtigen Unterschieden, das Patenschaft heißt. Es beschreibt die Beziehung zwischen Pate/Patin und Kind. Ursprünglich stammt es aus der Religion, wird aber auch von nicht-religiösen Familien genutzt, um dem Kind eine Bezugsperson zu geben. (In Sardinien ist es immer eine spontane, nicht-religiöse Entscheidung.)

Wie es die Deutschen mögen, wird die Rolle der Patentante oder des Patenonkels oft offiziell gemacht, mit einer Unterschrift bei der Taufe oder bei einer weltlichen Feier, die die Patenperson in die Familie aufnimmt. Der Unterschied ist: Diese Person wird von den Eltern gewählt, wenn das Kind noch sehr klein ist. Das bedeutet, das Kind hat kein Mitspracherecht und so ist es eher eine emotionale Versicherung als eine bewusste Wiedergeburt. (Die Deutschen haben eine besondere Beziehung zu Versicherungen, ich musste unweigerlich daran denken. Aber das ist nur meine persönliche Assoziation.)

In der Regel wächst das deutsche Patenkind nicht mit der Patentante im Alltag auf, wie es beim sardischen fiz’e’anima der Fall ist. Die Rolle ist wichtig, aber oft eher im Hintergrund. Doch es gibt Ausnahmen: Ein guter Freund von mir hat seine Jugend bei seiner Patentante in Portugal verbracht. Das war seine Entscheidung, er wollte so weit wie möglich weg von seinen Eltern, mit denen er sich nicht verstand.

Und auch das zeigt einen Unterschied: In Deutschland geht es oft ums Weglaufen (mein Freund floh vor etwas Unerträglichem). In Sardinien hingegen bleiben die Beziehungen zur Ursprungsfamilie meist gut, man ergänzt sie bewusst durch eine zweite Familie, aus freiem Willen.

Es gibt also Bindungen, die nicht im offiziellen Vokabular vorkommen, aber ein Leben tiefer prägen als tausend Unterschriften. Manchmal nennen wir sie Pat*innen, Seelenkinder oder Familienfreunde. Aber im Grunde sind sie eins: Menschen, die Verantwortung für uns übernehmen, nicht weil sie müssen, sondern weil sie es wollen.

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