Lucia Delitala, die Gesetzlose von Nulvi

Im Jahr 17051 wurde in Nulvi ein aufgewecktes Mädchen namens Lucia Delitala geboren, aus einer Familie mit bekanntem Adelsgeschlecht. Die Delitalas waren alles andere als friedlich, sie befanden sich in ständigem Streit miteinander. Die Familie war in zwei verfeindete Lager gespalten, die seit Jahren Krieg führten. Außerdem wurden sie politisch verfolgt, da sie der spanischen Krone treu blieben statt dem neuen Königreich Savoyen. Aus Notwendigkeit lebten sie also stets mit dem Gewehr in der Hand.

Wie immer wird der Charakter eines Menschen durch die Ereignisse und Stimmen geprägt, die seine Jugend begleiten. Und Lucias Kindheit war wohl mehr von Kriegsgeschrei als von Wiegenliedern umgeben: Einige der Delitalas saßen im Gefängnis, zwei waren zum Tode verurteilt, andere hatten sich versteckt. Auch Lucia selbst trug ihren Teil bei: Es heißt, sie schnitt als Kind Katzen die Kehle durch und verkaufte sie auf dem Markt. Außerdem soll sie mit einer kleinen Schere die Kleidung frommer Damen zerschnitten haben, als Strafe für deren zur Schau gestellte Eitelkeit auf dem Weg zur Messe.

Vielleicht zur Sühne dieser Sünden ließ die Familie Delitala in Nulvi die Kirche der Seligen Jungfrau Maria Assunta errichten.

Doch auch außerhalb ihrer Familie war Sardinien in jenen Jahren alles andere als ruhig: Wir befinden uns in Nulvi, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in den Anfangsjahren der neuen Herrschaft der Savoyer über Nord-Sardinien, ein Land voller Verbrecher und Aufständischer.

Lucia, inzwischen eine Frau, mochte diese neue Herrschaft überhaupt nicht: Tief mit ihrem Adelsstolz verwurzelt, zog sie die spanischen Adligen den Savoyern vor. Ihr ohnehin aufsässiger Charakter verschmolz mit dem Lauf der Geschichte, ein perfekter Cocktail aus Charisma und Widerstand.
„Sie wollte nicht heiraten, um von keinem Mann abhängig zu sein, so sagte sie selbst. Sie trägt einen Schnurrbart wie ein Grenadier, reitet und schießt wie ein Gendarm“, schrieb der Vizekönig an König Karl Emanuel III.

Ab 1718, als die Piemontesen Sardinien übernahmen, begann ein regelrechter Krieg gegen das Banditentum.

Und wenn Gott Paare zusammenführt, dann verbündeten sich die Rebellin Donna Lucia, der Bandit Giovanni Fais aus Chiaramonti und dessen Frau Chiara. Gemeinsam gründeten sie ein kriminelles Bündnis an der Spitze einer mächtigen Armee, die gegen die Savoyer kämpfte. Donna Lucia war eine echte Banditin: Sie befehligte Männer, gab Morde und Massaker in Auftrag, war gefürchtet und respektiert. Doch da sie adlig war, versteckte sie sich nicht in den rauen sardischen Bergen, sie schlief in ihrer luxuriösen Villa. Trotzdem blieb sie eine legendäre Amazone: Anführerin der Gesetzlosen, ritt bewaffnet durch die Wälder, um ihre Feinde zu stellen.

Sie starb irgendwann zwischen 1755 und 1767 – niemand weiß wo, wie oder warum. Manche sagen, sie wurde in ihrem Bett erwürgt, andere, sie sei bei lebendigem Leib verbrannt, mit ihrem Liebhaber.

In Nulvi, laut den Grabstätten der Familie Delitala, hat sie nie existiert: Kein Grabstein trägt ihren Namen.

Aber auch wenn Lucia Delitala fast ihr gesamtes Vermögen den Kirchen von Chiaramonti hinterließ, gab sie den Sarden etwas viel Wichtigeres: den Mythos des Widerstands, ein Geist, der auch heute noch in den ältesten Wurzeln Sardiniens weiterlebt.

  1. Franco Fresi, Le banditesse. Storie di donne fuorilegge in Sardegna ↩︎

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