Als der Regen auf Sardinien von einem Schädel abhing: Die Geschichte von Angelica in Lodè

Eine ältere Frau erzählte mir einmal, dass in Lodè während extremer Dürren einige Menschen eine makabre Gewohnheit hatten. Im Ossarium des Dorfes soll ein Schädel mit einem roten Band gelegen haben, bekannt als „Angelica“. Während der Trockenzeiten wurde der Schädel heimlich entnommen, aus dem Ossarium gebracht und ins Wasser getaucht, ein echtes Ritual, um Mutter Natur um Regen zu bitten.

Ich weiß nicht, ob die Geschichte wahr ist; ich habe sie nur einmal gehört. Vielleicht ist es eine Legende, vielleicht die Erinnerung an ein Ritual, das tatsächlich stattfand. Jede Anekdote trägt jedoch einen Kern anthropologischer Wahrheit in sich, und dass dieses Ritual heimlich durchgeführt wurde, ist kein Zufall.

Die Insel hatte eine heidnische Seele, und die Kirche setzte sich mit Gewalt durch, jahrhundertelang Rituale, Masken, Feuer und Tänze diskreditierend, um Symbole auszulöschen, mit denen sich die Menschen identifizierten. Doch diese Rituale waren kein leerer Aberglaube, sie waren befreiende Gesten, ein Weg, zu glauben, dass man das Geschehen beeinflussen konnte und nicht völlig dem Schicksal ausgeliefert war.

Das Angelica-Ritual war heimlich. Obwohl der Katholizismus aufgezwungen wurde, waren die Menschen nicht wirklich katholisch. In ihrem Inneren blieben sie den heidnischen Riten und Überzeugungen verbunden: etwas, das wir noch heute auf Sardinien bei sogenannten „katholischen“ Menschen oder Festen beobachten können, die Regeln der Kirche missachten.

Einerseits gab es die Angst, die Regeln zu brechen, andererseits den unwiderstehlichen Drang, sich selbst treu zu bleiben. Wenn dies bei euch Resonanz hervorruft, ist das kein Zufall: Wir alle teilen bestimmte menschliche Erfahrungen, und dazu gehört die Angst vor dem Mut: der Mut, offen zu leben, wie wir wirklich sind. Wir Menschen fürchten das Urteil und die Konsequenzen, weshalb wir uns oft in Geheimhaltung zurückziehen. Dieselbe Dynamik, die es bei heidnischen Ritualen gab, existiert noch heute: Viele verbergen ihr wahres Selbst und fügen sich den Erwartungen anderer, besonders in kleinen Gemeinschaften.

Doch die menschliche Wahrheit verschwindet nie vollständig. Selbst in sardischen Festen, unter katholischem Namen, tauchen Zeichen dieser alten, rebellischen Freiheit auf. Zum Beispiel das Fest von „S’erimu“ am 16. Januar in Lodè, bei dem Regelbruch und Übertritt lebendiger sind denn je.

Was uns von außen auferlegt wird, bleibt oft an der Oberfläche. Tief in uns jedoch versuchen unsere wahren Wünsche und Überzeugungen immer aufzutauchen. Sie zu unterdrücken lässt sie nicht verschwinden: sie brodeln in uns und drohen, uns zu zerstören, wenn wir nicht den Mut finden, ihnen zuzuhören.

Die Wahl liegt bei uns: Wir können den Mut haben, eine eigene Welt zu erschaffen, die aus dem besteht, wer wir wirklich sind, oder in der Welt leben, die andere für uns bestimmt haben.

Die Wahrheit in uns stirbt nie. Wir können sie offen leben lassen, oder, wie beim Angelica-Ritual, verstecken und uns in einem Leben aus Schatten und Unterdrückung einschließen.

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