Man sollte von den Menschen in Orgosolo lernen

Aristoteles lehrt uns, dass die Tugend niemals in den Extremen liegt, sondern im rechten Maß. Arroganz gehört zu dem, der sich überschätzt, Pusillanimität zu dem, der sich unterschätzt und kleinmacht. Zwischen diesen beiden zerstörerischen Kräften liegt ein heller Weg, den die Griechen megalopsychía nannten: die Größe der Seele, der Mut, den eigenen Wert zu erkennen, ohne ihn zu übertreiben, ohne ihn zu verkleinern, und ihn mit Würde zu leben.

Nach einem Tag in Orgosolo bin ich zu dem Schluss gekommen, dass die Menschen dort etwas Besonderes haben: Sie verkörpern Aristoteles’ Idee der Größe der Seele. Hier ist Gastfreundschaft selbstverständlich, aber niemals unterwürfig. Fremde im Café bezahlen für mich, jeder begegnet mir mit einem Lächeln. Während einer Wanderung im Supramonte rief mich sogar der Brandwächter von seinem Turm: Er bot mir Kaffee an und erklärte mir die Namen der Berge, der Dörfer am Horizont und der Pflanzen entlang des Weges.

Neben dieser Großzügigkeit ist der Stolz von Orgosolo immer spürbar. Alle sprechen Sardisch, sogar die Kinder und Jugendlichen (etwas Seltenes in vielen Teilen der Insel, wo die Sprache langsam verschwindet). Der lebendige Gebrauch des Sardischen, die Kleidung mit traditionellen Elementen, die typische Haltung der Barbagia, die Wandmalereien, die von Widerstand und Kämpfen erzählen: alles spricht von Identität, Würde, Widerstandskraft.

Am Abend des 15. August verändern die sonst fröhlichen und offenen Gesichter ihren Ausdruck. Auf festlich geschmückten Pferden zeigen die Menschen von Orgosolo ein Rennen, das zugleich Spektakel, Herausforderung und kollektives Ritual ist. Aufrechte Oberkörper, stolze Gesichter, einige, die sich sogar im vollen Galopp auf ihren Pferden erheben, unter den Rufen der Menge und dem Staunen der Kinder.

In diesem Gleichgewicht zwischen Gastfreundschaft und Würde zeigt Orgosolo das zeitgenössische Gesicht der megalopsychía: eine Größe der Seele, die konkret ist, die in menschlichen Beziehungen und alltäglichen Gesten lebt. Sie ist die Widerstandslinie Sardiniens, die uns in der Vergangenheit gerettet hat und uns auch heute noch zu retten versucht, die vor s’istranzu, dem Fremden, nicht das Haupt neigt, die allein aber leider nicht ausreicht.

Man sollte von den Menschen in Orgosolo und von ihrer Geschichte lernen. Würde ganz Sardinien ihrem Beispiel folgen, wäre jener dienerische Zug, der unser Land in den Abgrund führt, vielleicht nicht so ausgeprägt, wie er es heute ist.

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