Graziano Mesina wurde am 4. April 1942 in Sardinien geboren – ein fruchtbarer Boden für seinen unruhigen und rebellischen Charakter, genährt von einem alten, ungeschriebenen Gesetzeskodex. In der vierten Klasse warf er Steine auf einen Lehrer. Als Jugendlicher wurde er verhaftet, weil er Straßenlaternen im Zentrum von Orgosolo beschossen hatte. Mit 16 Jahren brach er zum ersten Mal (aber nicht zum letzten) aus dem Gefängnis aus. Nach kurzer Flucht wurde er erneut verhaftet. Dann wieder freigelassen. Dann wieder festgenommen, wegen versuchten Mordes. Zwischen Gerichten und Gefängnissen, Morden und Mordversuchen, Fluchten und Entführungen versuchte er mehr als zwanzigmal zu fliehenm zehnmal gelang es ihm. Man sagt, er sei einmal aus einem fahrenden Zug gesprungen, ein anderes Mal aus einem Fenster des Krankenhauses in Nuoro. Es heißt, er habe sich drei Tage lang in einem Rohr versteckt. 2004 wurde ihm Gnade gewährt, aber 2013, mit 71 Jahren, wurde er erneut verhaftet, wegen angeblicher Planung einer Entführung und wegen Drogengeschäften.
Er starb vor zwei Tagen, am 12. April 2025, an Krebs.
Man nannte ihn den König des Supramonte, den Robin Hood der Barbagia, die Rote Primel: Seine hartnäckigen Akte des Widerstands trugen dazu bei, eine epische Erzählung zu nähren, die tief mit kulturellen Problemen verwoben ist. Auch ich habe einen Magneten mit seinem berühmtesten Foto am Kühlschrank, das mit dem „5-Millionen-Kopfgeld“ (ja, es ist das Bild oben im Artikel). Es sind nicht seine gewalttätigen Taten, die eine Verbindung zu seiner Figur herstellen, sondern der Mythos der sa Balentia, der sich historisch irgendwie auf das Konzept von Gerechtigkeit bezieht, das Banditen verfolgten. Ein tief verwurzeltes Konzept in der sardischen Kultur.
Doch aus der Perspektive von 2025 wirkt Mesinas Leben wie das Ende einer Epoche, ein geschichtlicher Übergang, der im eigenen Verfall das melancholische Schicksal seiner Insel zusammenfasst.
Jenseits jeder moralischen Bewertung hatte sich „Grazianeddu“ als junger Mann wirklich aufgelehnt. Doch wenn man seinen Lebensweg verfolgt, sieht man, wie sich die Figur des Rebellen, einst geleitet von Ehre, Rache und ungeschriebenen Gesetzen, in eine Marionette des eigenen Mythos verwandelt hat.
Ursprünglich entstand der Banditismus aus echter Not, nicht aus sinnloser Rebellion: In einem Land, das von Gott (und vom Staat) vergessen war, gab es kaum Alternativen. Die ungeschriebenen Gesetze der sardischen Hirtenkultur waren überlebenswichtig. Und ehrlich gesagt, so streng und gegensätzlich sie auch zu den äußeren Gesetzen waren, sie funktionierten ziemlich gut. Dann kam der Staat und zerstörte ein Gleichgewicht, das über Jahrhunderte gehalten hatte. Und wie so oft: Wer Gesetze für andere macht, kennt diese Menschen meist nicht einmal. So entstand, wie Giuseppe Fiori es nannte, eine „Gesellschaft des Unwohlseins“.
Die Balentes waren also (ursprünglich) wirklich mutig. Männer mit echter Stärke, keine Schauspieler. Wenn sie hätten wählen können, wären sie lieber still geblieben.
Ein von außen zerstörtes System kann den Staat nur als Feind wahrnehmen. Und die Feinde deiner Feinde sind meistens deine Freunde. Deshalb gelten Banditen im kollektiven sardischen Bewusstsein auch heute noch als mutige Männer, die sich gegen die Ungerechtigkeit eines feindlichen Staates stellen.
Aber: es gibt ein Aber.
Graziano Mesina rebellierte bis zu seinem Tod nur noch aus Gewohnheit. Er verriet den ursprünglichen Sinn seiner Rebellion und wurde so zum Opfer des Mythos, den er selbst erschaffen hatte. Ein Mann, der nie wusste, wann es Zeit war, von der Bühne zu gehen. Die Rote Primel blühte vielleicht aus einem gerechten Grund und mit jugendlichem Geist, aber sie verwelkte unkenntlich, und verriet die Idee von uraltem Mut, die sie einst nährte… und hinterließ in den neuen Generationen die Pollen seiner Verwirrung.
Was in der Vorstellung junger Sarden heute bleibt, ist kein Akt des Widerstands mehr, sondern eine leere Rebellion aus Gewohnheit, ohne Ehre, ohne Ideale, ohne Mut und ohne echten Grund.Waffenbesitz, Drogenhandel, Alkohol und „Unterwelt“: Eine Art schlecht gemachter Mix aus einem sardischen Banditen, der nicht wusste, was er tun soll, und einem Pablo Escobar, der sich nie wirklich entschieden hat, wofür er eigentlich stehen wollte.
Leider sind es immer die neuen Generationen, die die Rechnung für diejenigen bezahlen müssen, die vor ihnen kamen.